
Ein gebrauchtes Wochenende (?)
4. Januar 2015Ein gebrauchtes Wochenende (?)
von Bernhard Kaiser
Das Jahresendturnier in Berlin ist für mich inzwischen eine Institution, an der nicht zu rütteln ist.
Obwohl ich in diesem Jahr nur an ein,zwei Turnieren der Serie teilgenommen habe, war der JET- Termin fest im Kalender verankert.
Es hätte durchaus andere Optionen gegeben:
Meine Frau bat mich, das Wochenende mit der Familie in Bayern zu verbringen; Freunde haben mich zu einem privaten Pokerturnier eingeladen; ein Top Model wollte kurzfristig am Sonntag ein Fotoshooting mit mir machen (kein Witz!).
Keine Chance!
Auch die Warnungen der Polizei, am Samstag morgen den Hauptbahnhof Hannover wegen der auf dem Vorplatz stattfindenden Demonstration „Hooligans gegen Salafisten“ großräumig zu vermeiden, konnten mich nicht abschrecken.
Als ich dann am Samstag morgen aufwachte, war plötzlich die Stimme weg, dazu Kopf- und Gliederschmerzen und wohl auch Fieber. Egal! Aufraffen und zum Bahnhof fahren! Dort war die Hölle los, was aber nicht an den Demonstranten lag, sondern am gewaltigen Polizeiaufgebot. Viele Bereiche waren abgesperrt; die vereinzelt eintreffenden Neo-Nazis wurden sofort in Empfang genommen, von oben bis unten durchsucht, auf Alkohol getestet und auf den abgeriegelten Bahnhofsvorplatz geführt. Fast konnten sie einem ein bisschen leid tun 😉 (ok, wirklich nur fast 😉 Kein Wunder, dass die Demo letztlich vorzeitig abgebrochen wurde.
Aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen hatten aber alle Züge über eine Stunde Verspätung. Ein schneller Anruf bei Dankwart stieß auf Verständnis, aber keine Gnade bezüglich eventueller Strafpunkte…
Meine Vernunft-Ecke im Gehirn freute sich und suggerierte mir, dass dies das finale Signal sein muss, die Reise abzublasen. Da diese Region bei mir aber recht verkümmert ist, konnte sie sich letztlich nicht durchsetzen. Nach einer zugigen Stunde in gemütlicher Bahnhofs-Atmosphäre warf ich mich in den nächsten Zug gen Osten.
Im Zug dann ein, zwei Grippetabletten eingeworfen, und den Rest der Fahrt gedöst. Meine übliche Vorbereitung mit XG und Takepoint-Charts musste dieses Mal ausfallen.
Vom Berliner Hauptbahnhof dann zur S-Bahn gerannt, am Alex den sich ewig hinziehenden Weg zur U-Bahn gejoggt (bloß keine Strafpunkte!!) und die letzten Meter von der Eberswalderstraße zum Spiellokal geeilt. Ankunft: 13:15. Keine Strafpunkte! Geschafft!!
Die nächsten 10 Minuten dann erst Mal in die Toilette gesperrt, um meine durch Fieber und Anstrengung schweißgetränkten Klamotten zu wechseln und etwas auszudampfen.
Dann ran ans Brett, gegen einen äußerst sympathischen Gegner (Thorsten Miesel).
Ich hab Kopfschmerzen und seltsame Schwierigkeiten, den Sinn des Spieles zu erkennen. Und dann gibt er mir (als Weißer) gleich im ersten Spiel einen echt ekligen 4er Cube:
Igitt! Wenn ich das Ding Gammon verliere, und das kann durchaus passieren, ist es sofort aus!!
Ein paar Minuten Denkpause…. keine Ahnung … Immerhin – das weiß ich noch im Hinterkopf – ist der Takepoint auf 7 Punkte unter 26% (und somit im Vergleich zu anderen 4-Cubes recht niedrig). Zudem ist die Recube-Power ziemlich hoch… aber gleich das Match riskieren ?? Egal! Dann ist es wenigstens schnell rum und ich kann noch ein bisschen ausruhen… Take!
Schon nach zwei Würfen kann ich tatsächlich nach einem glücklichen Treffer den Recube auf die 8 auspacken, der schon nicht mehr zu nehmen ist. 4-0!
Leider wird meine Form nicht besser und es wird am Ende nochmal richtig eng.. Aber irgendwie pasche ich mich nach Hause!
Der Cube auf die 4? War (knapp) noch nicht mal ein Doppel. In der Praxis aber auf jeden Fall! Ich hätte ihn um ein Haar weggeworfen..
Sollte es trotz meiner Unpässlichkeit so laufen wie im Jahr zuvor, mit 5 Siegen en suite? Nicht ganz. Dieser Sieg wird mein einziges Erfolgserlebnis im gesamten Turnier sein …
In der nächsten Runde geht es gegen den frischgebackenen deutschen Internet Meister Martin Birkhahn, der gnadenlos mitfilmt und somit meine schwache Form auf Leinwand bannt.
Im ersten Match der Vorrunde: Rolf (li im Vordergrund) gegen Steffen, Martin (li im Hintergrund) gegen Bernhard Kaiser
Im Laufe des Matches gelingt es mir irgendwie, mich einigermaßen zu konzentrieren und der Logik des Spieles wieder halbwegs auf die Spur zu kommen. Vielleicht hilft mir beim Fokussieren sogar die schon bald einsetzende und mir wohlbekannte Zeitnot. Geholfen hat es leider nichts, denn im DMP werde ich von Martin wie von einer Dampfwalze überfahren.
Immerhin war die Performance in Nachhinein nicht ganz so schlecht, wie ich befürchtet hatte.
Der folgenden Patzer hatte allerdings gar nichts mit meiner Befindlichkeit zu tun. Mit diesen Stellungen habe ich generell immer große Schwierigkeiten:
Martin (Weiß) gibt mir beim Stand von 4-2 auf 7 Punkte den Cube auf die 2:
So mal sehen, mein reiner Takepoint bei diesem Stand sind satte 29%! Im Rennen bin ich weit hinten. Und außer dem Bar-Punkt hab ich wahrlich nicht viel Konstruktives vorzuweisen. An der Kommunikation der Checker hapert es auch erheblich.
Martin kann doch einfach mit seiner Führung in Ruhe rauslaufen, Punkte machen und die Partie Richtung Crawford nach Hause fahren. Oder sogar ein Gammon gewinnen und somit das Match.
Also passe ich, kann so verkehrt nicht sein …
WRONG! WRONG! WRONG!
Auch dieses Doppel ist in der Tat ein Bluff-Cube! Und dieses Mal falle ich drauf rein..
XG gibt mir sage und schreibe 33% Gewinnchancen und immerhin 6% davon Gammons! Zusammen mit meiner hohen Recube-Power ist das noch deutlich zu wenig für ein Doppel! Außer natürlich man kennt seine Pappenheimer und ahnt, dass der Gegner ablehnt ..
Fast ein 500er Blunder!
Natürlich kann man sich das irgendwie zusammenreimen. Das Spiel ist noch lang, Martin kann nicht gleichzeitig entkommen und eine Prime bauen, ich kann vielleicht einen zweiten Punkt machen, und zur Not vom 5er Anker gewinnen oder sogar im Rennen …..
Aber ehrlich gesagt kapier ich die Stellung auch heute noch nicht … 😦
Im nächsten Match gegen Hartmut Schuler, welches für die Nachwelt leider verloren ist, fühle ich mich dann erstmals auf der Höhe des Geschehens und kann meinen Gegner permanent unter Druck setzen. Auch hier jedoch ohne den finalen Punch.. Im DMP ist wieder Endstation, diesmal allerdings nach sehr spannendem Verlauf..
Damit ist das Turnier fast schon gelaufen… Jetzt gilt es noch, die Ehre zu retten 🙂
An diesem Tag herrscht in Berlin akuter Brett-Mangel, und da ich mein schweres Board nicht mitschleppen wollte, muss ich zur Strafe die beiden letzten Runden in einem kleinen Nebenraum auf einem total versifften Board bestreiten, das sicherlich schon in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts im Einsatz gewesen ist..
Der in Reykjavik lebende Madrilene Jorge Fonseca mit griechischem Fanshirt
Das nächste Match gegen Jorge ist relativ blutarm. Mit folgender Ausnahme:
Hier habe ich noch für meine Verhältnisse komfortable 5 Minuten auf der Uhr….
… Nach Ausführung des Zuges sind es noch 12 Sekunden!
Immerhin schaffe ich es vor Ablauf der Zeit, den besten Zug (21/15, 2/1) zu spielen. Der ist aber so klar richtig, dass man ihn vielleicht ein bisschen schneller finden sollte ..
Zum Glück doppelt mich Jorge daraufhin auf die 4 (korrekterweise), ich nehme an, verfehle den Schuss und das Match ist ohne weitere Zeitnot-Eskapaden zu Ende…
Die letzte Runde ist alles andere als blutarm, es geht gegen Reiner, einen höchst originellen Spieler.
Jede Partie ist spannend und interessant. Das Match kulminiert beim Stand von 3 zu 5 (4away 2away). Diese ist möglicherweise die fantastischste Partie, die ich je gespielt habe mit haarsträubenden Verwicklungen, beiderseitigen Backgames und Spannung bis zum letzten Wurf.
(Interessenten finden das Match demnächst im Matcharchiv.)
Zwei Stellungen aus der Endphase dieser Partie:
Das Spiel ist so gut wie gewonnen, jetzt geht es darum, das Gammon und somit den Matchsieg zu sichern.
Soll man hier einfach die Prime ruhig nach Hause spielen, oder im Angesicht des schwachen gegnerischen Heimfelds Punkte öffnen, um vielleicht noch einen Close-Out hinzubekommen oder zumindest den zweiten Anker zu zerstören ?? Und wenn ja, wie ?? Schwierig …
Nach Verbrauch der Hälfte meiner verbleibenden Zeit (30 Sekunden), entscheide ich mich für das
Öffnen und ziehe 19/13 9/6.
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Tatsächlich zeigt später bei der Analyse XG auf Xroller + (Standardeinstellung für Matchanalysen) meinen Zug aus den vielen Dutzenden Möglichkeiten als den Besten an!!
Überhaupt bin ich sehr erstaunt, dass ich gemäß XG in diesem Match trotz der widrigen Umstände – Grippe, versifftes Board, viele komplexe Spiele, Zeitnot – eine geradezu mochyeske Performance hingelegt habe..
ABER:
Die Abstände der einzelnen Züge von meiner 6-3 sind hier sehr knapp, und ich klicke interessehalber nochmal auf Xroller ++, eigentlich nur, um die Überlegenheit meines Zuges noch deutlicher zu visualisieren…
.. und plötzlich ist 19/13, 9/6 nur noch auf Platz 24 (!), und 90 Equitypunkte hinter dem nun besten Zug, dem prosaischen 11/2 !! Ein Blunder!
Hmmm… Ist das der Weisheit letzter Schluss ?? Ich mache ein extensives Rollout mit einem Dutzend verschiedener Züge inklusive meinem..
Als ich nach ein paar Stunden wieder auf den PC und die Ergebnisse schaue, kippe ich fast vom Stuhl!
Jetzt ist mein schöner Zug auf einmal satte 500 (!!!) Punkte hinter dem jetzigen Spitzenreiter 12/9, 11/5! Ein Monster-Blunder! Nix mehr Mochy …..
Kann das denn wahr sein ?? Der Zug 11/5, 8/5 , der doch immerhin die gleiche Idee verfolgt wie der meinige, ist fast gleichauf mit dem Besten, also 470 Punkte vor meinem. Das gibt es doch nicht.
Liegt es an den Rollout Defaults? Ich habe immerhin 3ply für die Züge eingestellt. Ist das noch nicht genug ? Ist hier die Xroller Einschätzung dem Rollout vorzuziehen ?
Kann es sein, dass diese Stellung den Computer einfach komplett überfordert ?? Oder hab ich was falsch eingegeben ??
Sachdienliche Hinweise bitte an: onepointer@aol.com!
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Zurück zum Spiel!
Mein Plan geht jedenfalls auf, ich kann Reiner von der 22 locken, punkten und mit dem Abtragen für das Gammon beginnen während er noch Einen auf der Bar und 3 auf der 21 hat…
Leider kommt er aber gleich rein, und zeigt kurz darauf eine 6-6 .. Jetzt muss ich wieder hart ums Gammon kämpfen! Ein paar aggressive Ausspielzüge später inklusive einem offenen Hit muss ich (mit 15 Sekunden auf der Uhr) eine 3-1 spielen:
Instinktiv entscheide ich mich für 6-3, 1off. Wenn er nicht trifft, hab ich so deutlich höhere Gammon-Chancen.. Rechtfertigt das den Doppelschuss ??
Nun, im Gammon-Sinne lag ich richtig. Mein Spiel gewinnt tatsächlich 1% mehr Gammons (bei dieser Stellung kann man dem PC voll und ganz vertrauen). Allerdings verliert es 3,4% mehr Spiele (!) und ist damit auch bei diesem Stand klar schlechter.
Und, natürlich, Reiner zeigt mir in der Folge, wie man dieses Spiel noch drehen kann! Nach einigem Hin- und Her muss er letztlich mit 3 Steinen auf der 1 „nur noch“ einen Schlusspasch zeigen! Dieser wäre ein würdiger Abschluss der Partie gewesen, er gelingt ihm aber nicht mehr, uff!
Beim Stand von 5 zu 5 spielt Reiner früh auf Gammon, hat es bald schon fast sicher … und gibt mir plötzlich den Gnadendoppel!! Weiter geht die Zeitnotschlacht! Auch Reiner hat mittlerweile nur noch Sekunden auf der Uhr..
Das nächste Spiel ist dann aber das letzte. Ich spiele ein zweifelhaft getimtes 1-2 Backgame und Reiner lässt mir letztlich keine Chance…
1-4 nach der Vorrunde 😦 Gnadenhalber darf man bei einem gewonnenen Match noch um den Einzug in die Conso-Runde kämpfen. Diesen Onepointer verliere ich aber natürlich auch und bin schon am ersten Tag raus 😦 Ab ins Hotel und die Grippe auskurieren..
Am nächsten Tag steht aber noch das Doppel an zusammen mit Pipcount-Maschine Martin Birkhahn.
Auf dem Weg zur Berliner Meisterschaft im Beratungsdoppel – Alexander (li) und Peer gegen Bernhard und Martin (verdeckt)
Berliner Meister im Doppel war ich noch nicht, also gilt es, sich nochmal zusammenzureißen! Allerdings geht es mir noch schlechter als am Vortag, ich bringe kaum ein Wort heraus ..
Anstatt das einzig Vernünftige in dieser Situation zu tun, nämlich seinen starken Partner spielen zu lassen oder zumindest dessen Züge auszuführen, versuche ich mich hier noch voll einzubringen..
Das geht in der folgenden Stellung in die Hose, beim Stand von 2-2 auf 5 haben wir einen Pasch 5:
Die vehementen Einwände meines Partners rede ich – oder besser gesagt huste ich – nieder und ziehe 6/1*(2) 8/3*(2).
Ich bin mir zwar am Brett auch nicht ganz sicher, ob das der beste Zug ist, habe aber nach passiven Zügen Angst vor einem bei diesem Stand starken Doppel unserer Gegner.
Ein bisschen hoffe ich darauf, dass sie nach meinem Zug aufgrund von weniger offensichtlichen Marketlosern vielleicht nicht doppeln werden …
.. Aber nein, Peer Röwer und seinen versierten russischen Partner kann ich damit natürlich nicht bluffen.. ? Doppel auf die 2!
Aber ein Pass wird es schon nicht sein, auch wenn Martin unsicher ist. Also Take!
Falsch! Von wegen Marketloser.. Der Markt ist schon längst verloren! Die Stellung ist tatsächlich ein fettes Pass bei diesem Stand (easy Take im Moneygame)…
Nach 6 anderen Varianten der 5-5 wäre es noch ein Take gewesen. XG bevorzugt 2*13/3!
Mit Mühe verhindern wir das Gammon. Das nächste Spiel ist zwar interessant (und von beiden Seiten gut behandelt), geht aber auch verloren. Das war’s!
Da mein Zug erst für den späten Abend gebucht ist, gebe ich das Spielen auf und verlege ich mich in der Folge auf das Live-Transkribieren von Matches.
Bei seiner Lieblinsbeschäftigung – Bernhard Kaiser, dieses Mal am Board ohne Erfolg
Im spannenden Semifinale gegen Martin muss Local Hero Matthias Strumpf
Auf dem Weg ins Finale – Matthias (li) gegen Bernhard Ludwig Winkelhaus
beim Stand von 4-5 auf 11 eine 6-4 ziehen:
Matthias entscheidet sich für das konservative 16-10*, 10-6.
Ich denke mir beim Eingeben, dass er doch die paar Schüsse nach 16-10*, 11-7 riskieren sollte, wenn er die Partie noch gewinnen will.
Beides falsch! Klar richtig ist 16-10* 6-2!
Das ist so ein Zug, denn man leicht übersehen kann, der aber, wenn man ihn denn sieht, logisch ist.
Außenfeldkontrolle wird gehalten, der Turm vom 6er wird abgebaut und die Treffer schmerzen nicht allzusehr. 3-2 und 4-2 sogar eher den Gegner!
So, mein Zug geht bald, ich muss los. Was für ein desaströses Turnier. Zum ersten Mal muss ich Berlin mit einem dicken finanziellen Minus verlassen.. Oder ???
Nein!!! Bei der Calcutta-Auktion habe ich meinen „Landsmann“ Georg Lachnit-Winter ersteigert …
… und der gewinnt tatsächlich das Turnier 🙂
Glückwunsch, Georg, und danke, dass Du meine Serie nochmal gerettet hast!!
Resumee:
Auch wenn das mit der Auktion nicht geklappt hätte, wäre ich froh gewesen, das Turnier nicht verpasst zu haben, trotz des Antilaufes und der Woche Bettruhe danach … Und ja, ich bin ein bisschen verrückt 🙂
Was mir diesmal fast ein wenig gefehlt hat, waren die kleinen unterhaltsamen Streitereien unter den
Teilnehmern .. Während man bei dem Email-Verkehr im Vorfeld fast befürchten musste, dass die Mauer wieder hochgezogen wird, lief das Turnier doch in erstaunlich harmonischer Atmosphäre ab.
Vielleicht war ich aber auch zu sehr mit mir selbst beschäftigt und habe nichts mitbekommen 😉